Kassel. Der Jugend eine Chance: Für drei auswärtige Jungs, die gern in Kassel spielen wollen, hat die Eishockey-Jugend Kassel (EJK) eine Wohnung organisiert. Ein Besuch in einer besonderen WG. Wohngemeinschaften sind in einer Unistadt nichts Ungewöhnliches. Eine, die es seit dem Sommer in Kassel gibt – die aber ist etwas Besonderes. Denn sie ist die erste ihrer Art. Und ihre Bewohner sind deutlich jünger als Studenten der Uni Kassel – sie sind nämlich zwischen 15 und 18 Jahren alt. Mieter der Unterkunft in der Nähe des Finanzamtes ist die Eishockey-Jugend Kassel (EJK). Die Jungs, die die Fünf-Zimmer-Wohnung nun ihr Zuhause nennen, heißen Jan Ole Thomsen, Kilian Semmler und Nikolai Kania. Bis zum Sommer kannten sie sich nicht – doch innerhalb kurzer Zeit sind die drei zu einer Gemeinschaft zusammengewachsen, zu einer Art Ersatzfamilie. Die Liebe zum Eishockey und der Wunsch nach der bestmöglichen sportlichen Ausbildung hat das Trio zu einem ungewöhnlichen Schritt veranlasst: Sie haben ihre Elternhäuser in Norderstedt, Hannover und Hamburg verlassen und sich EJK angeschlossen.
Die WG
Der Verein geht mit dem WG-Projekt neue Wege und stellt seine Nachwuchsarbeit auf ein neues Fundament. Denn die Möglichkeit, Eishockey-Talenten, die nicht aus der Region kommen, vor Ort neben der sportlichen auch eine private Perspektive zu bieten, die gab’s in Kassel bislang nicht. An Traditionsstandorten wie Mannheim, Köln und Berlin leben die Talente in Internaten, gehen parallel zur Schule. Die EJK startet all das nun im Kleinen. Das Trio geht zum Goethe-Gymnasium, die schulische Vollmacht hat EJK-Trainer Milan Mokros. Er wacht mit einem Mix aus väterlicher Strenge und Fürsorge über das Trio. Der Coach ist selbst Vater einer Tochter. „Ich habe mir immer einen Sohn gewünscht. Jetzt habe ich gleich drei auf einen Streich“, scherzt er.
Die Schule steht trotz sportlicher Ambitionen an erster Stelle. „Die Zeit zum Lernen ist knapp. Wir haben ein Abkommen mit der Schule, das hilft“, erklärt Mokros. Er schaut regelmäßig in der WG vorbei, ist Ansprechpartner in allen Lebenslagen. Bald gibt es mit Monika Weber auch eine Zieh-Mama vor Ort.
Jeder der Jungs hat sein eigenes Zimmer. Den Alltag regeln sie weitgehend selbst: einkaufen, putzen, waschen – in der WG gibt’s die Haushalts–Schule fürs Leben gleich mit. Auch einen Kochkurs. „Sie müssen lernen, wie richtige Ernährung im Leistungssport aussieht“, betont Mokros. Tiefkühlpizza, die gehöre nicht dazu.
Das Leben spielt sich ab zwischen Schule, Wohnung und Eissporthalle – ein Kinderspiel mit der Tram-Haltestelle vor der Haustür. „Die GWG und der Bürgermeister haben uns dabei sehr geholfen, kurzfristig eine freie Wohnung in solch zentraler Lage zu bekommen“, erklärt EJK-Chef Matthias Kolodziejczak.
Die Mietkosten teilen sich die Elternpaare, die ihre Kinder regelmäßig besuchen. „Ich muss zugeben, es sind ein paar Tränen geflossen, als mein Papa im Sommer gefahren ist. Es wurde einfacher, als Kilian kurz danach eingezogen ist. Über die Schule habe ich mich schnell integriert. Und ja, ich fühle mich richtig wohl“, sagt Thomsen. Auch Kilian Semmler äußert sich ähnlich: „Ich bin anfangs öfter heimgefahren, aber jetzt habe ich mich gut eingelebt und bin froh, den Schritt gegangen zu sein.“
Nikolai, der Jüngste im Bunde, kam als Letzter hinzu. Er hatte Hamburg schon als 13-Jähriger verlassen und war ins Internat nach Füssen gezogen. Glücklich aber wurde er dort nicht. Nun also Kassel. „Ich habe mich direkt wohlgefühlt. Hier habe ich eine viel bessere Perspektive.“
Das Sportler-Leben
Dreimal Training pro Woche, dazu Spiele am Wochenende. In ihren Teams sind die drei Leistungsträger, schnuppern aber auch rein bei höherklassigen und älteren Mannschaften. Jan Ole Thomsen spielt in der U20, saß aber häufiger als Ersatzmann bei den Profis der Huskies auf der Bank. Kilian Semmler spielt mit Thomsen in der U20, aber auch für Lauterbach und die 89ers. Nikolai steht bei der U17 zwischen den Pfosten. Der Traum, mal als Eishockey-Profi zu leben, eint sie. Aber sie wissen auch, dass das WG-Leben in Kassel auf dem Weg dorthin nur der Anfang ist.
Der Ausblick
„Es muss nicht bei einer WG bleiben“, sagt Kolodziejczak. „Der erste Versuch ist gelungen“, zieht er nach einem halben Jahr ein positives Zwischenfazit. „Längerfristig wäre es toll, wenn wir rund um die Eissporthalle ein Sport-Internat aufbauen könnten. Auch für Fußballer und Leichtathleten wäre das eine Option. Die Lage ist in Hessen ganz besonders.“ Foto: Carina Wagner/nh, Andreas fischer/nh
Die Steckbriefe Torhüter Jan Ole Thomsen: 18 Jahre, geboren in Norderstedt bei Hamburg, 12. Klasse Goethe-Gymnasium; seit August in Kassel; Lieblingsfächer: Bio und Sport Vereine: DNL/Division 3: U20 Eishockey-Jugend Kassel (EJK); DEL2: Kassel Huskies; und zuvor U16 bis U19 Crocodiles Hamburg
Verteidiger Kilian Semmler: 17 Jahre, geboren in Hannover-Langenhagen, 11. Klasse Goethe-Gymnasium, seit August in Kassel; Lieblingsfächer: Chemie und Physik Vereine: DNL/Division 3: U20 EJK; Regionalliga, Förderlizenz für EC Lauterbach; Hessenliga: 89ers Kassel; zuvor U16 Hannover, U16 Wedemark Scorpions
Torhüter Nikolai Kania: 15 Jahre, geboren in Hamburg, 8. Klasse Goethe-Gymnasium, seit Sommer in Kassel; Lieblingsfächer: Sport und Mathe Vereine: Bundesliga Nord: U17 EJK, zuvor U16 Füssen, U16 Hamburger SV
Quelle: Michaela Streuff/HNA